"Ohne NFP 75 würden viele absolut coole Projekte und wichtige Erkenntnisse fehlen"
Reinhard Riedl, Mitglied der Leitungsgruppe, über das NFP 75 und über Big Data im Allgemeinen.
Können Sie uns erklären, was aus Ihrer Sicht Big Data bedeutet?
Big Data bedeutet für mich, implizit in Datenmengen enthaltene Informationen explizit zu machen. Das kann ganz unterschiedliche Formen annehmen – von der Aufbereitung von Daten für die Auswertung über das Extrahieren von inhaltlichen Erkenntnissen und das Steuern von Echtweltsystemen bis zur für Menschen verständlichen Darstellung von Daten. Die grossen Herausforderungen liegen darin, heterogene Daten und Daten von zweifelhafter Qualität sinnvoll zu verarbeiten, teilweise extrem grosse Datenmengen in den Griff zu bekommen und die Ergebnisse richtig einzuordnen. Man kann mit Big Data beinahe Wunder bewirken und grossen Nutzen stiften, aber man kann damit auch faulen Zauber treiben und Schaden anrichten.
Wo erwarten Sie die grössten Auswirkungen?
Die grössten positiven Auswirkungen für den normalen Menschen wird Big Data voraussichtlich in der Gesundheitsversorgung haben: Die Menschen werden im Mittel dank Big Data länger gesund leben. Big Data wird dafür die medizinische Forschung unterstützen, einfache Aufgaben automatisieren helfen, machine-learning-basiert die Diagnose verbessern, eine personalisierte Präzisionsmedizin unterstützen, Ärzten beim Verarbeiten komplexen Wissens helfen und Patientinnen und Patienten befähigen, ihre Gesundheit besser zu pflegen. Und, und, und.
Eine grosse Frage ist beispielsweise, wie man die False-Positives bei Warnsystemen auf der Intensivstation reduzieren kann. Ein zu viel and falsche Warnungen führen zu hohem Stress für die Mitarbeitenden und zu Fehlern. Hier würde Big Data helfen, den Stress und potenziell schwerwiegende Fehler zu reduzieren. Ein Projekt des NFP 75 hat sich konkret dieser Fragestellung gewidmet.
Sehr viele Menschen werden auch erleben, wie Big Data zur Veränderung ihrer Fachdisziplin führen wird: Lehrpersonen, Sport-Coaches und Manager ebenso wie Landwirte, Beamte und Richter. Und natürlich in ganz grossem Mass alle Forscherinnen und Forscher. Wer seinen Beruf mit Begeisterung ausübt und zusätzlich neugierig ist, der wird das schätzen und lernen, damit gut umzugehen. Andere werden es als Bedrohung empfinden oder gedankenlos und so sinnbefreit verwenden, dass man neue "Checks and Balances" einführen wird müssen. Beispielsweise für das "Predictive Policing", die datenbasierte Personalführung oder die Nutzung von Daten in der Versicherungswirtschaft.
Big Data wird uns zudem alle vor die Frage stellen, ob wir bewusst und rational mit unseren Ressourcen umgehen wollen oder lieber weiterhin aus dem Bauch handeln wollen – vom Umgang mit unseren Talenten, unserer Zeit und unserem finanziellen Vermögen über den Umgang mit unseren Gesundheitsressourcen und unseren Emotionen bis zur Nutzung unseres Freundeskreises und unserer Beziehungen.
Und was ist Unsinn?
Unsinn ist erstens, dass Big Data die Welt besser macht. Denn man kann Big Data auf bizarr zynische Weise nutzen, beispielsweise um gezielt Arme und Verzweifelte auszubeuten. Big Data kann uns nur helfen, in dem viel besser zu werden, was wir tun wollen. Das gilt für Idealisten und Spezialisten, wie für Machtmenschen und Kriminelle.
Unsinn ist zweitens, dass Big Data schnell und kurzfristig die Welt verändert. Es wirkt parallel in sehr vielen Bereichen, aber oft dauert es sehr lange, bis es zu Veränderungen der fachlichen Praxis führt. Vor allem aber passieren diese Veränderungen nicht automatisch.
Unsinn ist drittens, dass Big Data die Fachdisziplinen überflüssig macht und es in Zukunft nur mehr eine Wissenschaft braucht, die Datenwissenschaft. Big Data ist ein extrem mächtiges Werkzeug; es kann potenziell sogar die Transdisziplinarität fördern, aber es kann weder fachliches Wissen noch fachliche Kreativität ersetzen.
Wie hat sich Big Data seit dem Start des NFP 75 verändert?
Die Entwicklung der Algorithmen macht erwartungsgemäss grosse Fortschritte. Mathematik und Statistik rücken dabei mehr in den Vordergrund. Big Data ist nicht mehr nur ein Informatik-Ding. Ebenso wichtig ist, dass uns die Nutzung der Algorithmen in praktischen Anwendungen – in Systemsteuerung, Forschung, Fachpraxis, Verwaltung und Unternehmensführung – zu einem vertieften Verständnis von Chancen, Risiken und praktischen Herausforderungen geführt hat. Daraus sind beispielsweise Forschungsfragen zu «Inference Uncertainty» entstanden. Es wurden aber auch erste vernünftige Konzepte für die ethische Reflexion erarbeitet. Gleichzeitig ist der Hype abgeflaut und viele trauen sich nun, Big Data als Bluff zu verunglimpfen. Andere trivialisieren Big Data und reduzieren es auf die Nutzung sehr einfach gestrickter Werkzeuge. Eigentlich ist also die Verwirrung in der breiten Öffentlichkeit noch grösser geworden. Aber das ist in dieser Phase normal.
Wie beurteilen Sie die Position der Schweiz in Bezug auf Big-Data-Forschung? Z.B. mit dem NFP 75?
Für die wirtschaftliche und politische Zukunft der Schweiz ist es von absolut zentraler Bedeutung, in der Big-Data-Forschung auf Augenhöhe mit den Besten der Welt zu sein. Wer nur Empfänger des technischen Fortschritts ist, kann politisch nicht autonom handeln und hat wirtschaftlich ein Problem. Es ist grober Unfug zu glauben, dass die Amerikaner und Chinesen für uns schon die Big-Data-Probleme lösen werden. Wir müssen selbst zu Algorithmen, Technik und Anwendungen forschen. Darüber hinaus haben wir durchaus Chancen, ausgehend von unseren Werten selber neue Perspektiven aufzuzeigen, beispielsweise zu multi- und transdisziplinäre Wirkungsanalyse und Wirkungsmodellierung. Das sind grosse, noch kaum beforschte Felder.
Was würde fehlen, wenn es das NFP 75 nicht gäbe?
Zuerst einmal viele absolut coole Projekte und wichtige Erkenntnisse, die daraus resultieren. Die würden uns wirklich fehlen! Dann aber auch die gerade entstehenden Vernetzungen unter den am Programm beteiligten Forscherinnen und Forschern. Und nicht zuletzt die politische Aufmerksamkeit für das Thema. Das Interesse der politischen Meinungsbildner und Entscheidungsträger ist gross, zu verstehen, wie man die Nutzung von Big Data in der Schweiz fördern kann und wo man regulierend eingreifen sollte. Das NFP 75 wird hier wichtige Impulse für den politischen Diskurs liefern. Angesichts der Wirklichkeit, dass wir das Rechtsparadoxon haben, dass frühzeitige Rahmen-Regulierungen meist zu liberaleren Gesetzgebungen führen als späte Regulierungen, ist der rechtzeitige Wissenstransfer in die Politik sehr wichtig. Mir persönlich ist zudem der Wissenstransfer auf breiter Front in die Wirtschaft wichtig. Wir haben in der Schweiz in der praktischen Datennutzung mehrere Jahre Rückstand auf die USA und andere Länder. Das können wir nur aufholen, wenn auch ganz normale Unternehmen und die Verwaltung beginnen, die Big-Data-Werkzeuge effektiv zu nutzen.
Reinhard Riedl
Reinhard Riedl studierte Technische Mathematik und promovierte in Reiner Mathematik. Derzeit beschäftigt er sich mit der digitalen Transformation von Unternehmen. Er ist Ko-Leiter des Instituts Digital Enabling (IDEA) an der Berner Fachhochschule (BFH), Leiter des BFH-Zentrums Digital Society und Herausgeber von www.societybyte.swiss